Herausforderungen der Digitalisierung

Digitalisierung ist in aller Munde, oder trendig korrekt formuliert: „24/7 omni-channel“. Seit mindestens drei Jahren hat die Intensität der Darstellung dieses Mega-Trends in den Medien stark zugenommen. Spätestens im Sommer 2015 hatten alle Beratungsunternehmen und Wirtschaftsmedien dieses Top-Thema ins sprichwörtliche Schaufenster gestellt. Es wird Zeit eine erste Zwischenbilanz zu ziehen.

 

In einer Studie für den Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) hatte im Februar 2015 die Beratungsgesellschaft Roland Berger in einer Studie die europäischen Industrieunternehmen vor großen Herausforderungen gesehen und eine potenziellen Wertschöpfungsverlust in Höhe von etwa 600 Mrd. EUR vorhergesagt, wenn sich die Unternehmen nicht den Herausforderungen stellen. Als am stärksten betroffen vom digitalen Wandel bzw. mit disruptiven Veränderungen konfrontiert wurden die Automobil- und Logistikindustrie klassifiziert. Ebenfalls signifikante Veränderungen sollten auf die Medizintechnik, Elektro- und Energietechnik sowie den Maschinen- und Anlagenbau zukommen. Nur mässige Veränderungen wurden für die Chemie- / Pharmaindustrie und die Luft- / Raumfahrttechnik erwartet.

 

Hier geht es zur Studie.

In 2015 beherrschte das Thema Digitalisierung die öffentliche Debatte und ein „Digitalisierungsgipfel“ bzw. Digitalisierungskonferenz jagte die nächste. Es wurden zwar auch damals schon von Lücken in der „digitalen Reife“ bzw. zwischen digitalen Strategien und konkreter Umsetzung in den Unternehmen gesprochen, aber der Schwerpunkt lag ganz klar auf der Strategiediskussion und Heerscharen von Managern reisten ins digitale Eldorado (früher schlicht „Silicon Valley“ genannt), um dieses Phänomen quasi an seiner Geburtsstätte zu studieren und sich von den amerikanischen Internet-Helden die digitale Welt erklären zu lassen.

 

Der große Hype scheint 2017 zumindest in der öffentlichen Berichterstattung deutlich abgeflaut zu sein, und das ist auch gut so. Digitalisierung ist kein Allheilmittel, aber ein zentraler Faktor bei der weiteren Verbesserung von Strategie, Organisation und Geschäftsprozessen in Unternehmen, insbesondere in den Bereichen Marketing und Vertrieb sowie Kundenservice, aber auch immer mehr in Produktion und Logistik. Unzählige „Digitalisierungsprojekte“ sind aktuell in der Umsetzung und vielleicht ist es auch deshalb in der öffentlichen Debatte etwas ruhiger geworden. Diejenigen, die von diesem komplexen Thema wirklich etwas verstehen, sind nun bis über beide Ohren mit Arbeit eingedeckt.

 

Im Gegensatz zu den Zeiten des ersten digitalen Hypes Ende der Neunziger Jahre sind nun deutlich komplexere Probleme zu bewältigen. Wie kann man etwa den Kunden eines Handelsunternehmens freie Wahl für alle Schritte von Information, Auswahl, Bezahlung und Empfang der Waren nahtlos über alle Vertriebskanäle hinweg bieten. Wie kann vollständige Transparenz über die Bestände und mögliche Lieferverzögerungen entlang der kompletten Supply Chain und die Übergabe / Zustellung der bestellten Ware am gewünschten Ort und zur gewünschten Zeit sichergestellt werden? Wie funktioniert die Prüfung der Kreditwürdigkeit eines neuen Leasingnehmers innerhalb von wenigen Sekunden und wer übernimmt bei der Anwendung eines zertifizierten Bewertungsalgorithmus, der auf Basis einer Selbstauskunft und weniger ausgewählter Kriterien – also auf Vertrauen – basierenden Prüfung dann welche Risiken für einen Kreditausfall?

 

An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Digitalisierung 4.0 kaum sogenannte Killer-Applikationen hervorbringen wird, sondern eine Unzahl von sehr unternehmens- / fallspezifischen und komplexen Lösungen. Diese greifen zwar auf einen Baukasten von Basis-Applikationen und Standardsoftware zurück, werden aber selbst keine Standards. Es ist eben etwas völlig anderes, die Online Vermittlung von Hotelzimmern oder Taxis zu programmieren oder eine Spracherkennung auf einem Smartphone zu realisieren. Dabei handelt es sich entweder um vergleichsweise einfache Transaktionen, die mit Standardlösungen abgedeckt werden können, oder um ein sehr komplexes Problem, dessen Lösung danach aber als App milliardenfach verkauft werden kann.

 

Eine zweite große Herausforderung besteht darin, dass für die meisten B2B-Anwendungen nicht nur die erfolgreiche Realisierung einer technischen Lösung erforderlich ist, sondern fast immer auch die tiefgreifende Veränderung von Geschäftsprozessen, Organisationsstrukturen und Fähigkeiten von Mitarbeitern und Managern erforderlich ist – eben eine ganzheitliche digitale Transformation. Dies stellt Unternehmen vor große Herausforderungen und die hierfür nötigen Veränderungen lassen sich nicht innerhalb von wenigen Wochen definieren und umsetzen. Diese Erfahrung machen nicht nur traditionelle Großunternehmen, sondern auch viele digitale StartUps, die in die Jahre gekommen sind und sich nicht mehr so gut über sich selbstorganisierende Teams ohne definierte Standardprozesse und klar definierte Führungsorganisation steuern lassen.

 

Eine stringente Prozess-Logik ist auch in „digitalen“ Geschäften Voraussetzung für das Erreichen eines hohen Servicegrads und niedriger Stückkosten. Deshalb ist durchaus zulässig von Amazon nicht mehr als einem sogen. „E-tailer“ zu sprechen, sondern von einem globalen Logistikunternehmen mit angeschlossenem Online-Shop. Viele Innovationen, wie „predictive logistics“, also die Verteilung von Produkten an die regionalen Logistikpunkte, noch bevor hierfür konkrete Kundenbestellungen vorliegen oder eine Zustellung innerhalb von wenigen Stunden an frei wählbaren Orten zu Terminen, die der Endkunde wählen kann, hat Amazon vorangetrieben. An diesen Beispielen kann man auch deutlich erkennen, dass Agilität kein neues Phänomen ist, sondern durch die Digitalisierung nur noch weiter beschleunigt, ja auf die Spitze getrieben werden kann. Die weltweite Organisation von Amazon ist dabei extrem nach definierten Standards ausgerichtet, die Performance wird ständig durch eine Vielzahl von KPIs gemessen und im Rahmen eines Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) wird ständig versucht, die Performance weiter zu verbessern. Identifizierte Best Practices werden dann zügig weltweit implementiert. Das klingt vertraut? Nun, man kann vielleicht auch sagen, dass in der Logistik die vermeintlich „alten“ Erfolgsrezepte immer noch die besten Resultate liefern.

 

Man kann auch sagen, dass Unternehmen die „kartierten Territorium“ unterwegs sind, es offenbar leichter haben den unzweifelhaften Nutzen einer umfassenden Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse zu erschließen. Unternehmen, die sich hierfür in komplettes Neuland bewegen müssen, haben dabei erheblich mehr Schwierigkeiten zu meistern. Nicht nur die Organisation muss grundlegend umgebaut werden, sondern Management, Experten und Mitarbeiter müssen viele neue Fähigkeiten erlernen. Letztlich muss auch die Unternehmenskultur umfassend verändert werden.

 

In einer aktuellen Studie hat Capgemini zusammen mit dem Digitalspezialisten Brian Solis in Europa und den USA insgesamt 1.700 Mitarbeiter in 340 Unternehmen befragt (siehe auch Forbes-Artikel). Der Untersuchungsansatz bestand darin, einerseits das Management und andererseits die Mitarbeiter eines Unternehmens zur digitalen Transformation zu befragen und dadurch die Unterschiede und Herausforderungen heraus zu arbeiten. Insgesamt gaben 62% der Befragten an, dass die Unternehmenskultur die größte Hürde bei der digitalen Transformation sei; in Deutschland sagten dies sogar 72% der Befragten.

Die Autoren haben auch ein Modell für eine „digitale Unternehmenskultur“ definiert, das aus sieben Attributen besteht: Innovation, datenbasierte Entscheidungsprozesse, Kollaboration, offene Kultur („mit-teilen“), Vorfahrt für Digitalisierung, Agilität und Flexibilität und Kundenfokussierung („Customer Centricity“). Anhand dieser Attribute wurde herausgearbeitet, wie gut Unternehmen mit der digitalen Transformation voran kommen.

Die Studienergebnisse attestieren deutschen Unternehmen einen deutlichen Rückstand bei der Umsetzung einer digitalen Kultur. Während in UK 63%, in Schweden 50% und den USA immerhin 47% der Manager davon überzeugt waren, dass ihre Unternehmen bereits ein hohes Maß an „digitaler Kultur“ erreicht haben, sind in Deutschland nur 20% der Manager davon überzeugt. Noch deutlicher wird dieser Befund bei den Mitarbeitern: In UK betätigen dies 53%, in Schweden 43% und den USA sogar 48% der Mitarbeiter, während in Deutschland kein einziger Teilnehmer dies bestätigen wollte. Hier von einem deutlichen Rückstand in der Umsetzung der digitalen Transformation im internationale Vergleich zu sprechen muss schon als krasse Untertreibung verstanden werden.

 

Bei XLCIRCLE haben wir das Thema Digitalisierung ebenfalls bereits im Jahr 2015 in den Fokus genommen und mittlerweile haben einige unserer Berater auf Kundenprojekten sowohl in der Strategieentwicklung und Konzeption, als auch in der meist deutlich anspruchsvolleren Umsetzung mitgewirkt. Aktuell entwickelt ein Team eine Perspektive zur digitalen Transformation von Banken, die wir im Herbst aktiv vermarkten wollen. Es geht uns darum Kunden dabei zu unterstützen, die häufig beobachteten kulturellen und organisatorischen Barrieren bei digitalen Transformationsprogrammen erfolgreich zu überwinden bzw. von Beginn an zu vermeiden. Über die weiteren Entwicklungen auf diesem Gebiet werden wir regelmäßig informieren.

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